Neulich stolperte ich über einen – ja, ich gebe es zu – an sich harmlosen Zeitungsartikel. Im besagten Artikel warnte die Journalistin potenzielle Weltenbummlerinnen und Weltenbummler davor, der Schweiz für längere Zeit den Rücken zu kehren. Warum? Weil, so argumentierte sie, ein Auslandaufenthalt eine Kürzung der Rente nach sich ziehen könnte. Das Sicherheitsdenken treibt manchmal seltsame Blüten, nicht wahr?
Doch schauen wir etwas genauer hin. Die Message lautete: Vergessen Sie die Altersvorsorge nicht, wenn Sie auf Weltreise gehen, an einer ausländischen Universität studieren oder im Ausland arbeiten. Denn für jedes Jahr, in dem man bzw. frau keine Beiträge an die AHV zahle, würde die Rente um 2,3 % gekürzt. Im Jahr 2015, so der Artikel weiter, hätten schon 12 % der Schweizer Neurentner und 27 % der ausländischen Neurentner in der Schweiz Beitragslücken in der AHV aufgewiesen. Alarmierende Zahlen also!
Die Weltreise – eine unbezahlbare Erinnerung
Ja, ich gestehe: Auch ich habe meine AHV-Beiträge nicht lückenlos eingezahlt. Weil ich Mitte zwanzig die Welt entdecken wollte und mich zu wenig um meine Altersvorsorge gekümmert habe. Mittlerweile bin ich jedoch in einem Alter, in dem ich mir tatsächlich Sorgen um meine erste, zweite und dritte Säule mache. Und trotzdem bin ich der Meinung: Eine Weltreise oder ein Austauschjahr während des Studiums sind unbezahlbare Erinnerungen. Und wiegen eine mögliche Rentenkürzung auf.
Sicherheitsdenken: Sicher ist gar nichts
Apropos Weltreise: Vor Kurzem hatte ich ein berührendes Gespräch mit einer alten Frau. Die Tochter der über Neunzigjährigen war wenige Monate zuvor mit knapp sechzig Jahren an Krebs gestorben. Die Mutter vertraute mir Folgendes an: «Als sie jünger war, habe ich ihr oft gesagt, sie solle mehr sparen und sich besser fürs Alter absichern. Ich habe sie damals nicht verstanden. Nachdem sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, verkündete sie, sie werde jetzt ein Jahr auf einer Alp verbringen. Alle waren baff. Und all die teuren Reisen, die sie unternommen hat. Doch jetzt weiss ich, dass sie alles richtig gemacht hat. Sie hat die Welt gesehen. Sie hat gelebt.»
Es ist doch so: Der postmoderne Mensch versucht, das Leben zu kontrollieren. Er strebt nach Sicherheit, baut sichtbare und unsichtbare Mauern. Er will sich gegen alle möglichen und unmöglichen Gefahren absichern. Das beginnt mit Klagen gegen McDonalds in den USA, weil sich Drive-in-Gäste heissen Kaffee über die Beine schütten – heute sind wir also nicht einmal mehr vor Heissgetränken sicher –, geht über obligatorische Kindersitze im Auto und endet bei der Lebensversicherung. Doch die Wahrheit ist: Das Leben ist unberechenbar. Es lässt sich nicht vorhersagen. Und vor allem lässt es sich nicht kontrollieren.
Niemand kann in seine Zukunft blicken
Auch wenn mir Mike Shiva und andere Wahrsager sicher widersprechen würden: Niemand kennt seine Zukunft. Du weisst nicht, ob du deinen Job in einem Jahr noch hast. Du weisst nicht, ob du morgen in einen Verkehrsunfall verwickelt wirst oder eine medizinische Diagnose erhältst, die dein Leben verändert. Du weisst nicht, ob du nach der Pensionierung noch in der körperlichen Verfassung bist, zu verreisen. Du weisst nicht, wie lange du lebst. Und du weisst auch nicht, ob es die AHV in 40 Jahren überhaupt noch geben wird.
Warum das Sicherheitsdenken schadet
Und trotzdem: In schwachen Stunden sucht mich das Sicherheitsdenken immer wieder heim. Lautlos schleicht es sich dann an, kriecht mir langsam den Rücken hoch, flüstert mir ein, dass ich gesünder essen, mehr Sport machen, mich besser versichern oder eine Vollzeitstelle als Beamtin annehmen sollte. Doch in solchen Momenten gebe ich nicht mehr klein bei. Ich kämpfe gegen meine Angst und halte mir Folgendes vor Augen: Das Sicherheitsdenken garantiert mir keine Sicherheit. Es jagt mir Angst ein, es blockiert mich. Und es hält mich davon ab, meinen Weg zu gehen.
Versteh mich nicht falsch: Natürlich ist es notwendig, sich Gedanken um die Altersvorsorge zu machen. Ich propagiere nicht, dass wir kopflos in den Tag hinein leben sollten. Aber das Wichtigste ist doch, im Jetzt zu leben, den Moment zu geniessen und das Glück nicht auf morgen zu verschieben. Denn irgendwann ist es zu spät. Und dann werden dir auch die 2,3 % Rentenkürzung, die du umschiffen konnten, indem du auf die langersehnte Weltreise verzichtet hast, nicht mehr viel nützen. Am Ende unseres Leben bereuen wir vielmehr das, was wir nicht getan haben. In diesem Sinne: Carpe diem, liebe Leute!
Liebe Leserin, lieber Leser, bringt uns das Sicherheitsdenken wirklich mehr Sicherheit? Diskutiere gerne mit und hinterlasse mir einen Kommentar.
Keine Kommentare