Heimat
Gesellschaft

Heimat: Liebe Schweiz, manchmal nervst du tierisch!

Die Menschentraube am Check-in-Schalter bugsiert mich langsam vorwärts. Es ist brütend heiss in der Halle, die Luft riecht nach Sonnencrème, Schweiss und Ferienende. Das Flugticket nach Basel klebt in meiner Hand, der Tramper drückt auf meine Schultern. Ich verfluche meine Hamsterkäufe. Den sardischen Wein, den Pecorino, die Oliven. Die Leute drängeln. Ein dicker Mann tritt meinem Freund auf den Zeh. Eine Frau kreischt, weil sie für einen Augenblick ihr Kind aus den Augen verloren hat. Das schweizerdeutsche Stimmengewirr schmerzt in meinen Ohren. Spätestens jetzt will ich umkehren. So enden sie jedes Mal, meine Ferien. Mit Fluchtgedanken.

Was ist Heimat?

Denn die Schweiz und ich – das ist keine Liebesgeschichte. Obwohl es doch ganz einfach wäre. Auf dem Papier ist die Schweiz meine Heimat. Hier wurde ich geboren. Hier wuchs ich auf. Meine Eltern sind Schweizer. Meine Grosseltern auch. Schweizerdeutsch ist meine Muttersprache. Ich bin Schweizerin.

Aber was bedeutet mir die Schweiz? Ist die Schweiz meine Heimat? Und was bitte schön heisst Heimat überhaupt? Ist die Heimat ein Ort auf der Landkarte? Oder doch eher ein Gefühl von Geborgenheit, das wohlig wärmt und uns an einem beliebigen Ort auf der Welt packen kann?

Duschen nach 22 Uhr? Schwierig

Bisweilen fühle ich mich in der Schweiz sehr fremd. Ja, liebe Schweiz, es muss einmal gesagt sein: Manchmal nervst du tierisch. Glas entsorgen an einem Sonntagnachmittag? Verboten. Duschen nach 22 Uhr? Uhhh, das gehört sich doch nicht. Mal schnell ein Bild aufhängen am Abend? Gell, Sie wissen schon, wie spät es ist? Tiere in der Wohnung? Ja, aber nur mit Sonderbewilligung. Ein Leben ohne Doppelhaushälfte, Auto, Kinder und Vollzeitstelle? Verlegenes Hüsteln.

Und dann das notorische Sich-über-alles-und-jeden-beschweren-Müssen. Über den Zug, der – oh Gott – ganze fünf Minuten Verspätung hat. Über die Kassiererin in der Migros, die so dreist war, nicht nach der Cumulus-Karte zu fragen. Oder über den Arbeitskollegen, der doch tatsächlich einen Dürüm – wähhhh, dieser Gestank – im Büro verspeist hat. Bünzlitum at its best.

Wo eine Frau nach Mitternacht zu Fuss nach Hause gehen kann

Und gleichzeitig, liebe Schweiz, gleichzeitig schätze ich dich sehr. Ich bin dir dankbar für die hohe Lebensqualität. Für die sauberen Gewässer – in welcher Hauptstadt der Welt kann man sonst im Fluss baden, ohne seine Gesundheit zu riskieren? – , die vollen Regale im Supermarkt, die Wälder mitten in der Stadt, die Mehrsprachigkeit, den Wohlstand, die politische Stabilität, die Sicherheit.

Hier kann ich bedenkenlos Wasser aus dem Hahn trinken, um Mitternacht zu Fuss nach Hause gehen oder das Velo über Nacht draussen stehen lassen. Und wenn ich arbeitslos bin, werde ich vom sozialen Netzwerk aufgefangen und muss nicht befürchten, gleich unter der Brücke zu landen.

Meine Heimat – eine unnahbare, kühle Schönheit

Die Franzosen sagen: «Partir, c’est mourir un peu.» Vielleicht ist es tatsächlich so. Jedes Mal, wenn wir verreisen, stirbt ein Teil von uns und bleibt in einem anderen Land zurück. Je mehr wir reisen, desto weniger assoziieren wir die Heimat mit einem bestimmten Ort. Und desto mehr werden wir zu Weltbürgern.

Aber mach dir keine Sorgen, liebe Schweiz. Ich bin dir auch dieses Mal nicht untreu geworden. Auch wenn ich mit einem Seitensprung geliebäugelt habe, ich gebe es zu.

Doch ich habe der Versuchung widerstanden und bin nicht auf Sardinien geblieben. Ich habe mich von der Masse an den Check-in-Schalter drängen lassen, habe meinen Tramper aufgegeben – und mit ihm ein paar meiner Träume , bin brav ins Flugzeug gestiegen. Die Klagen über den schlechten Service an Bord, das fehlende Aromat im Essen und die vielen Luftlöcher sind an mir abgeprallt. Ich kenne dich doch.

Und dann durfte ich dich von oben bestaunen, liebe Schweiz. Eine kühle Schönheit bist du. Makellos und gleichzeitig unnahbar. Nachdem wir minutenlang blindlings durch dicke Wolkentürme geflogen sind, um nach über einer Stunde endlich wieder Boden unter den Füssen zu spüren, hast du uns wortwörtlich die kalte Schulter gezeigt – wie so oft. Es fällt mir schwer, dich ins Herz zu schliessen. Und trotzdem, trotzdem bist du meine Heimat.

Liebe Leserin, lieber Leser, wo fühlst du dich zu Hause? Ich bin gespannt auf deinen Kommentar.

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