Das Café um die Ecke ist proppenvoll und 100 Prozent vegan, das Ambiente verströmt urbane Gemütlichkeit. Pastellfarbenes Keramikgeschirr, ein Kronleuchter, helle Möbel, ein Märchentelefon für die Kleinen. Mir gegenüber sitzt ein leicht angegrauter Mann und rührt in einem Beetroot-Latte, seine Begleiterin nippt an einem Detoxtee, streicht über ihr iPhone 11, schweigt. Die Stille zwischen den beiden ist laut.
Vor der Theke stehen zwei junge Mütter mit dick eingepackten Kindern und debattieren über die ausgestellten Kuchen. Ist der Rüeblikuchen wirklich vegan? Ist die Schokolade nachhaltig, sind die Mandeln biologisch, ist da Margarine drin, was ist mit Weizen und was bitte schön mit Zucker? Die Liste der bösen Lebensmittel ist lang, die Entscheidung folgenschwer. Schliesslich bestellen sie Rüeblikuchen – natürlich vegan – und Kurkuma-Latte mit Sojamilch. Eine gute Wahl. Die südasiatische Wurzel ist angeblich reich an gesundheitsfördernden Eigenschaften. Krebshemmend, antioxidativ, entzündungshemmend – wer bitte schön entscheidet sich da noch für einen Kaffee? Schnell trinke ich meinem Hafermilchcappuccino aus, das schlechte Gewissen nagt an mir.
Schuldgefühle wegen Kuhmilch
Doch muss das sein? Müssen mich Schuldgefühle plagen, weil ich am liebsten geschäumte Kuhmilch von meinem Kaffee löffle? Ich gestehe: Ich ernähre mich weder vegan noch vegetarisch und die Vorteile einer glutenfreien Ernährung haben sich mir bisher noch nicht erschlossen.
Ich bin eine Omnivorin. Das heisst: Ich esse viel Obst und Gemüse, mässig Milchprodukte und ab und zu Fleisch oder Fisch. Früher, da war das okay. Früher, da kassierte ich für meine flexitarische Ernährungsweise lediglich ab und zu eine hochgezogene Augenbraue. Ob ich denn genügend Proteine zu mir nähme? Und Eisen? Und Vitamin B12? Heute reicht ein zurückhaltender Fleischkonsum nicht mehr aus. Heute fühle ich mich auf frischer Tat ertappt, wenn ich eine Packung Schinken in mein Einkaufskörbli lege. Geht es dir auch so?
Vegan oder nicht-vegan, dazwischen gibt’s nichts
In den letzten Jahren ist zwischen Fleischessern und Veganern ein regelrechter Glaubenskrieg entbrannt. Beide Seiten kämpfen mit religiösem Eifer für ihre Sache. Schwarz oder weiss, richtig oder falsch, Himmel oder Hölle. Und wer sich nicht an die Regeln hält, wird diffamiert.
Dazu beigetragen haben unter anderem Dokumentarfilme wie The Game Changers (2018) oder What the Health (2017). In The Game Changers recherchiert ein ehemaliger Kampfsportler zur optimalen Ernährung für Athleten und entdeckt, dass angeblich schon die römischen Gladiatoren ihre Manneskraft aus einer pflanzlichen Ernährung zogen. Folglich bewirbt er die vegane Ernährung als ideale Sportlerernährung. What the Health hingegen macht eine Verschwörung der Milch-, Fleisch- und Pharmaindustrie für die grassierenden Gesundheitsprobleme in der westlichen Welt verantwortlich und propagiert die vegane Ernährung als heiligen Gral für ein langes, gesundes Leben.
Tönt griffig. Nur: Einfache Geschichten haben meistens einen Haken. Und sollten uns deshalb aufhorchen lassen. Denn oft sind sie zu glatt, zu einfach, beleuchten nur einen Teil des Ganzen. Oder sie verfolgen bestimmte Interessen, machen hemmungslos Propaganda.
Versteh mich nicht falsch: Ich habe nichts gegen eine vegane Ernährungsweise – im Gegenteil. Ich ernähre mich selbst mehrmals pro Woche vegan – meist unbewusst. Denn ich liebe buntes Gemüse, Früchte, Sprossen, Nüsse, Linsen und Hummus. Zudem ist es unbestritten: Pflanzliche Nahrungsmittel sind gut, für Mensch und Umwelt. Und es steht ausser Frage: Wir konsumieren viel zu viel Fleisch und tierische Produkte, mit teils gravierenden Folgen.
Doch dieses missionarische Schwarz-Weiss-Denken widert mich an. Warum müssen wir Lebensmittel mit religiösem Fanatismus in gut und böse unterteilen? Warum sagen wir, ach, jetzt habe ich wieder gesündigt, wenn wir Weizen oder Milchprodukte essen? Und warum suchen wir unser Seelenheil in einer bestimmten Ernährungsform? Ist die Ernährung in unserer entzauberten Welt zu einer Art Ersatzreligion geworden?
Der neueste Trend: intuitives Essen
Dass es gefährlich ist, Lebensmittel in gut und böse zu unterteilen, liegt auf der Hand. Denn ein solch restriktives Verhalten kann zu schwerwiegenden Essstörungen führen. Da überrascht der neueste Ernährungstrend nicht. Intuitive Eating heisst er. Intuitiv essen heisst: Essen nach Lust und Laune. Auf die Signale des Körpers hören. Habe ich Hunger? Habe ich Durst? Bin ich satt? Intuitiv essen heisst, Diäten Lebewohl zu sagen und Lebensmittel nicht kategorisch als gut oder böse abzustempeln. Und intuitiv Essen heisst, dem Essen entspannt gegenüberzutreten, es zu geniessen. Tönt vernünftig, oder? Und Hand aufs Herz: Haben wir uns nicht mehrheitlich so ernährt, bevor diese ganze Hysterie rund ums Clean Eating begann?
Also, treten wir dem Essen doch wieder etwas entspannter gegenüber. Hören wir auf, in Schwarz-Weiss-Kategorien zu denken. Respektieren wir andere Meinungen. Seien wir kritisch. Konsumieren wir bewusst, aber mit Genuss. Apropos Genuss: Der Hafermilchcappuccino hat gut geschmeckt, der vegane Himbeerkuchen war ein Traum. Nur an den Beetroot-Latte wage ich mich noch nicht.
Liebe Leserinnen, liebe Leser, deine Meinung interessiert mich: Wie stehst du zum Hype rund ums Clean Eating? Ich freue mich über deinen Kommentar!
2 Kommentare
Hat mich gefreut, wieder mal was von Dir zu lesen, Eveline! Ich bin übrigens ein intervallfastender Flexitarier😊 LG J-M
Vielen Dank für den Kommentar, Jean-Marc! Ich gebe mir Mühe, wieder regelmässiger zu schreiben:)